Oberschleißheim:Sehnsucht nach dem Grauen

Oberschleißheim: Eine regelrechte Performance: Wenn Johanna Bittenbinder und Heinz-Josef Braun lesen, herrscht im Saal absolute Stille.

Eine regelrechte Performance: Wenn Johanna Bittenbinder und Heinz-Josef Braun lesen, herrscht im Saal absolute Stille.

(Foto: Robert Haas)

Johanna Bittenbinder und Heinz-Josef Braun bringen mit ihrer szenischen Lesung des Krimis "Tannöd" das Publikum in Oberschleißheim zum Schaudern - gerade auch dank der Unterstützung des Art Ensemble of Passau

Von Franziska Gerlach, Oberschleißheim

Der Mich, also der Michael Baumgartner, Gelegenheitsdieb und Aushilfsarbeiter auf dem Dannerhof, linst durch die breite Ritze der Dielen des Heubodens in den Stadl hinab. Eine Frauenstimme hat er vernommen, sie gehört der Barbara, das weiß er gewiss. Doch da ist noch eine Stimme, ein Mann ist bei ihr, sie streiten, plötzlich geht der auf sie los. Der Mich wendet sich ab. Als er wieder hinabblickt, durch die Ritzen, sieht er die Barbara am Boden liegen. Und eine Spitzhacke. Und Blut. Sehr viel Blut.

An den Tischen im Bürgerzentrum Oberschleißheim herrscht absolute Stille in dem Moment, als Schauspieler Heinz-Josef Braun die vorletzte Szene der Live-Krimi-Show Tannöd gelesen hat, für die der gleichnamige Bestseller von Andrea Maria Schenkel szenisch bearbeitet wurde. Als wollten die Oberschleißheimer den Schauspieler partout nicht stören, der da mit Hut und bierernster Miene neben Schauspielerkollegin und Ehefrau Johanna Bittenbinder auf der Bühne sitzt. Als könnte schon ein Räuspern die Spannung im Saal ruinieren wie ein Fleck Rotwein das schicke, neue Sommerkleid. Seit einigen Jahren treten Braun und Bittenbinder, im Übrigen selbst Tochter eines Bauern und in Unterhaching aufgewachsen, mit ihrer Version von Tannöd auf. Das "Art Ensemble of Passau" begleitet diese besondere Lesung mit Posaune, Schlagwerk, Akkordeon, Tuba und Trompete. Und wenn die beiden Schauspieler auch nur zu loben sind für das unverfälschte Bairisch und die Wandlungsfähigkeit, mit der sie gut 20 unterschiedlichen Charaktere aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen lassen - und den Fall so peu à peu rekonstruieren - so machen doch erst die Klänge eines sentimentalen Walzers oder einer schmissigen Polka Tannöd zu dem, was es ist: eine Performance, die die Zuschauer mit jedem Windhauch, den die Musiker nachahmen, mit jedem Quietschen und mit jedem Knarzen zum Schaudern bringt. Nachdem die beiden Schauspieler fast zwei Stunden abwechselnd gelesen haben - er die Männer, sie die Frauen - nimmt Braun einen Schluck Wasser und holt Luft für das große Finale.

Die Bäuerin war nicht das einzige Opfer dieser grausamen Tat, die sich vor annähernd hundert Jahren in Hinterkaifeck, einem nicht mehr existierenden Einödhof in der Nähe von Schrobenhausen, tatsächlich zugetragen hat. Schenkel ließ sich von dem ungewöhnlichen Kriminalfall inspirieren, allerdings verfrachtete sie die Ereignisse in die Fünfzigerjahre, als sie sich der Geschichte annahm. Tannöd erschien 2006, im Jahr darauf erhielt die Autorin für ihr Buch den Deutschen Krimi-Preis, 2009 wurde es mit Monica Bleibtreu und Julia Jentsch verfilmt.

Doch während die Morde von Hinterkaifeck bis heute nicht aufgeklärt wurden, liefert Schenkel dem Leser einen Täter: Georg Hauer, ein verwitweter Bauer, streckte nicht nur die Barbara und ihre beiden Kinder nieder, sondern auch eine Magd und Barbaras Eltern, den alten Dannerbauer und die alte Dannerbäuerin. Die Schmach unerwiderter Liebe hatte Hauer zu dieser grauenvollen Tat getrieben, die Demütigungen der Barbara, die ihn erst angelockt und nach der Geburt des Sohnes unversehens weggestoßen hatte. Nun sollen sie sterben. Alle, die ganze Familie. Nur das Bild des toten Josefs in seinem Kinderbettchen, das bekommt der Bauer hernach nicht mehr aus dem Kopf. "Wie er da lag, in seinem Blut", hat Heinz-Josef Braun gesagt. Es ist einer der letzten Sätze, die der Schauspieler in Oberschleißheim spricht. Die Tragödie der Danners ist dem Zuschauer da gerade mit einer Heftigkeit um die Ohren geflogen, die Shakespeares Dramen als harmlose Gute-Nacht-Geschichten erscheinen lässt. Der zweijährige Josef ist nämlich gar nicht der Sohn von Georg Hauer, auch wenn dieser das stolz im ganzen Dorf herumposaunt hat. Die Barbara hat ihm den Buben untergejubelt, aus Angst vor dem wahren Erzeuger. Ihr Vater, der Dannerbauer, hat seine Tochter missbraucht, seit sie zwölf Jahre alt war.

Schenkels fesselnde Geschichte um Tyrannei in der bayerischen Provinz, die sich in einem Blutrausch entlädt, steigert ihre Kraft auf der Bühne noch. Besonders Bittenbinder versteht es, die Frauenrollen mit glaubwürdiger Lebendigkeit zu versehen. Mal erzählt sie mit der unkonzentrierten Naivität einer Achtjährigen, als Pfarrersköchin poltert sie dann, dass da ja nur der Teufel seine Finger im Spiel haben könne. Das sei dahingestellt. Der Boom der Regionalkrimis machte vor einigen Jahren indes zweifelsfrei offenbar, wie sehr das Verbrechen vor der eigenen Haustür zu packen vermag. Schenkel hat das erkannt. Und Bittenbinder und Braun stillen diese unerklärliche Sehnsucht nach dem Grauen um die Ecke auch 2018 aufs Vorzüglichste.

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